Marie ist 24 und arbeitet in einem gastronomischen Betrieb als Kellnerin. Da sie neben dem Studium arbeitet, hat sie mit ihrem Arbeitgeber vereinbart, dass sie in der Woche 20 Stunden arbeitet. Außerdem werden ihre Arbeitszeiten mit ihrem Arbeitgeber eine Woche im Voraus geplant.

Schon in der ersten Arbeitswoche wird sie an einem gut laufenden Tag eingesetzt. Eigentlich hatte sie vereinbart, dass ihr Arbeitstag bis 22 Uhr gehen wird – doch im Lokal geht es dann erst so richtig los. Es kommen immer mehr Gäste. Als sie gegen 22:15 Uhr gehen möchte, fragt sie ihr Vorgesetzter: „Du wirst mich doch jetzt nicht im Stich lassen?“ und deutet charmant mit einem Kopfnicken in Richtung der Gäste. Obwohl sie eigentlich morgen ihren Tag zum Lernen fest eingeplant hat, willigt sie ein und arbeitet weiter. Als das Lokal dann um 1 Uhr schließt, hilft sie auch noch beim Aufräumen und verlässt schließlich um 2 Uhr das Lokal – immerhin 4 Stunden später als geplant.

„Eigentlich gefällt mir die Flexibilität..“ sagt sie zu sich selbst beim Rausgehen „..doch vier Stunden sind mir viel zu viel.“. Marie fühlt sich ungerecht behandelt und so als wäre sie übergangen worden.

Ob dies wirklich so ist, ist neben Selbstbestimmung, Verantwortung und dem klaren Setzen von Grenzen Thema dieses Beitrags.

Selbstbestimmung ist ein Grundbedürfnis

Eines unserer vier Grundbedürfnisse ist das der Selbstbestimmung. Bei dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung geht es, wie der Name vermuten lässt, darum ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Also insbesondere darum, Denken und Handeln so auszurichten, wie es den eigenen Vorstellungen entspricht. Damit dies gelingt ist es notwendig klare Grenzen zu setzen. Wir müssen uns selbst disziplinieren und uns von anderen abgrenzen.

In Maries Fall hat sie sich selbstbestimmt dazu entschieden, einzuwilligen nur bis 22 Uhr zu arbeiten, damit sie am nächsten Tag mit voller Energie lernen kann. Damit hat sie sich selbst klar eine Grenze gesetzt. Sie hat abgegrenzt, wieviel Raum die Arbeit in ihrem Leben einnehmen darf. In dieser gesetzten Grenze zeigt sich was Marie rational wertschätzt und äußert sich ihre Selbstbestimmung.

Als Marie die indirekte Aufforderung bekommt doch länger zu arbeiten, fühlt sich Marie von ihrem Vorgesetzten fremdbestimmt. Sie fühlt sich so, als hätte dieser ihre Grenze übertreten.

Grenzübertretung als Angebot

In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass Marie nicht unter Zwang gesetzt wurde. Ihr Vorgesetzter hat sie lediglich – zugegeben auf eine geschickte Weise – darum gebeten länger zu bleiben. Aus der Sicht des Arbeitgebers war dies lediglich ein Angebot auf das Marie eingegangen ist. Damit hat Marie ihre eigene Grenze übertreten.

Generell kann man immer davon ausgehen, dass solche Grenzübertretungen nur ein Angebot sind, solange nicht eine Extremsituation wie unter Freiheitsentzug oder Gewaltandrohung vorliegt.

Diese Sichtweise einzunehmen – also davon auszugehen, dass wir kein Opfer sind und immer die Entscheidungsgewalt haben – gibt uns Macht, schließlich übertreten wir letztlich nur unsere Grenzen selbst.

Grenzen zu ziehen ist unsere Verantwortung

Wenn wir die Macht haben für unsere Grenzen einzustehen, so muss es auch unsere Verantwortung sein. Nur wer keine Macht hat – und damit ein Opfer ist – hat auch keine Verantwortung.

Es ist unsere Aufgabe für unsere eigenen Bedürfnisse, also insbesondere dem nach Selbstbestimmung, zu sorgen, indem wir klare Grenzen setzen. Wir sind die einzigen Wesen, die unsere Bedürfnisse, Werte und Vorstellungen überhaupt kennen. Unsere Grenzen sollten die Funktion erfüllen, diesen Bedürfnissen, Werten und Vorstellungen nachzukommen. Deshalb können nur wir selbst Grenzen so wählen, wie es für uns passt. Wenn wir uns nach einer für uns passenden Begrenzung sehnen, beispielsweise nach einer Gesetzgebung, dann ist das aus rationaler Sicht so, als sehnen wir uns entweder nach Grenzen, die uns nicht gerecht werden können, oder als würden wir erwarten, ein allgemeines Gesetz würde unserer Individualität nachkommen. Wir ignorieren also entweder unsere Bedürfnisse oder unsere Individualität.
Dabei ist dieser Impuls selbstverständlich auf emotionaler Ebene zu verstehen: Wir sehnen uns nach einer Opferhaltung, bei der wir keine Verantwortung übernehmen müssen, denn: Grenzen zu setzen ist anstrengend.

Die Angst Grenzen zu setzen

Den allermeisten Menschen macht es schlicht Angst Grenzen zu setzen und diese auch zu vertreten. Besonders gegenüber dem Arbeitgeber, dem oft Autorität zugesprochen wird, fällt das schwer. Wir haben das Gefühl der Arbeitgeber gibt uns etwas, vielleicht wie der Name bereits andeuten lässt  Arbeit. Damit hat er Macht über uns und wir werden kleiner und kleiner.

Ein freier Markt funktioniert jedoch anders. Die sogenannten Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind mündige Vertragspartner, welche sich gemeinsam dazu entschließen eine Win-Win-Situation einzugehen, beispielsweise „Arbeitszeit-gegen-Geld“. Im Vertrag werden grundsätzliche Grenzen bereits gut geregelt, dennoch bedarf die Praxis immer noch eine soziale Verhandlung, wie im Beispiel angedeutet.

Ein Arbeitsverhältnis ist eine Beziehung wie viele andere und folgt ähnlichen Regeln. In einer guten Beziehung haben beide Partner einen Gewinn von dieser, dementsprechend sind beide Partner auch motiviert diese zu erhalten. Ist dies langfristig nicht der Fall, sollte die Beziehung beendet werden.

So kann auch an das Einstehen für die eigenen Grenzen herangegangen werden: Entweder es herrscht gegenseitiger Respekt, der sich in einer Achtung der Grenzen, bzw. der Verträge äußert, oder durch die Äußerung der Grenzen zeigt sich ein schlechtes Verhältnis, bei dem keine Augenhöhe herrscht. Zeigt sich so ein schlechtes Verhältnis muss daran gearbeitet, oder es verlassen werden – eine einfache Akzeptanz dieses Missstandes, ist eine direkte Frustration des Bedürfnisses nach Selbstbestimmung und wird sich, auf die eine oder andere Weise symptomatisch äußern. Umso mehr die Grenzübertretung unsere Bedürfnisse verletzt umso schlimmer die Symptome.

Im Beitrag über Grenzen in Beziehungen haben wir bereits era  rbeitet, wie sehr Begrenzung mit Respekt zusammenhängt: Erst wer begrenzt, schafft Beziehungsgrundlagen. Er bietet dem anderen einen Fixpunkt an, dem dieser als Orientierung dient. Das schafft Respekt. Ein Konflikt über solche Grenzen kann also auch ein „reinigendes Gewitter“ sein, bei dem gegenseitiger Respekt gestärkt oder erstmalig aufgebaut wird.

Wie wir Grenzen ziehen können

Da wir wenig darüber lernen, wie wir als mündige, emanzipierte Menschen auftreten, kann es schwer fallen Grenzen zu setzen. Deshalb folgend einige Gütekriterien für ein Gespräch über Grenzen.

Klarheit

Wir müssen klar und unmissverständlich ausdrücken, was wir wollen und meinen. Sowohl uns selbst gegenüber als auch anderen. Wir müssen verstehen, dass andere vielleicht nicht in der Lage sind Andeutungen oder schwammige Formulierungen von uns zu verstehen. Außerdem ist es auch gar nicht ihre Verantwortung diese zu verstehen. Deshalb kommunizieren wir Grenzen so klar und konkret wie möglich.

Marie würde also sagen: „Abgemacht war, dass ich heute bis 22 Uhr arbeite, deswegen werde ich jetzt gehen..“

Transparenz

Es ist nicht unsere Aufgabe anderen verständlich zu machen, warum wir diese Grenzen setzen. Trotzdem fällt es den anderen viel leichter diese für sich zu akzeptieren, wenn klar wird, warum wir diese Grenzen setzen.

Eine äußere Transparenz setzt eine innere Transparenz voraus: Wir müssen uns selbst darüber im Klaren sein, warum wir gewisse Dinge wollen und andere Dinge nicht, wenn wir diese Transparenz jemandem anbieten wollen.

Umso mehr wir preisgeben, umso verletzlicher machen wir uns. Umso verletzlicher wir uns machen umso polarisierender wird die Bindung – sie kann also sehr intim oder sehr distanziert werden. Im Arbeitsumfeld empfiehlt es sich immer ehrlich zu sein, aber nicht zu intime Details preiszugeben.

Marie würde also sagen: „.. ich muss gehen, weil ich morgen für meine Prüfung lernen muss und meinen Plan strikt einhalten muss..“

Empathie

Wenn sich Grenzen an Interessenskonflikten zeigen, dann liegen auch innere Motive des Gegenübers vor. Diese zu verstehen ist ebenfalls nicht unsere Aufgabe, macht es uns aber leichter eine gute Beziehung zum Gegenüber zu führen.

So wie wir unser Inneres erklären können, so können wir auch versuchen den anderen zu verstehen und dessen Gefühlsleben anzuerkennen.

Marie würde also sagen: „.. Ich verstehe, dass du jetzt gerade meine Hilfe bräuchtest und es tut mir (für Dich) Leid, dass Du jetzt solchen Stress hast. Ich muss aber leider jetzt gehen.“

Zusammenfassung

  • Selbstbestimmung ist ein Grundbedürfnis
  • Wir sollten Grenzen ziehen, wenn Ziele, Werte oder Bedürfnisse verletzt werden
  • Grenzen setzen macht uns oft aufgrund falscher Glaubenssätze Angst
  • Grenzen zu ziehen ist unsere Verantwortung
  • Wir können Grenzen ziehen indem wir:
    • klar aussprechen, was für uns nicht geht
    • unsere Intentionen erklären
    • die Intentionen des anderen einfühlsam verstehen

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